Das bessere Europa

Reisefreiheit, Begegnungen, gemeinsamer Umweltschutz – nach dem Brexit erscheinen europäische Errungenschaften nicht mehr selbstverständlich. Für Ska Keller ist klar: Wenn wir die EU nicht hätten, müssten wir sie erfinden. In ihrem Gastbeitrag für die Frankfurter Rundschau erzählt sie, wie wir ein besseres Europa schaffen können.

14.07.2016
Debatte humane Flüchtlingspolitik
Ska Keller ist Vizepräsidentin sowie migrations- und handelspolitische Sprecherin der Grünen/EFA-Fraktion im Europaparlament.

Wenn wir die Europäische Union jetzt nicht hätten, müssten wir sie erfinden. Nur gemeinsam können wir den Herausforderungen unserer Zeit begegnen – sei es Klimawandel, Steuerflucht, Flüchtlinge, Finanzkrisen oder Globalisierung. Diese Aufgaben kann kein Staat alleine bewältigen, dafür braucht es Kooperation. Auch wenn manche meinen, dass ihr Staat alleine besser dastünde – keine Mauer kann hoch genug sein, um die Globalisierung draußen zu halten.

Über diese guten Gründe für die EU reden wir aber kaum. Stattdessen wird die EU als bürokratisches Monster kritisiert und alle scheinen stets zu denken, dass sie nur einzahlen und nur alle anderen von der Gemeinschaft profitieren. Das ist falsch und wir Menschen, die wir daran glauben, dass wir – bei allen Fehlern und Problemen – gemeinsam besser dastehen, müssen diesem Zerrbild widersprechen.

Es reicht aber nicht, nur die Ziele festzuschreiben. Die europäische Gemeinschaft muss diese Ziele auch aktiv anstreben. Durch ambitionierte Klimaziele, eine solidarische Flüchtlingspolitik und soziale Gerechtigkeit, damit Menschen nicht zu Globalisierungsverlierern werden. Nur wenn wir wirkliche Fortschritte bei der Bewältigung der oben genannten Herausforderungen vorzuweisen haben, sind wir glaubhaft.

Natürlich haben verschiedene Parteien grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen darüber, wie die Ziele am besten zu erreichen wären. Dafür braucht es politischen Wettstreit, damit die Bürgerinnen und Bürger sich überlegen können, welche Ideen sie unterstützen und welche nicht. Damit wären wir bei der Frage des Wie. Wie Entscheidungen getroffen werden, ist zentral für die Glaubwürdigkeit jeder politischen Ebene.

Im Europäischen Parlament müssen wir in dieser Frage besser werden, obwohl wir den Vergleich mit nationalen Parlamenten in Sachen Offenheit und Transparenz nicht scheuen müssen: Die Sitzungen von Ausschüssen sind öffentlich und werden im Netz übertragen; die Sitzungspapiere sind frei zugänglich, und nach den Entscheidungen im Parlament lässt sich leicht herausfinden, wer wie abgestimmt hat.

Im Rat sieht es ganz anders aus. Wenn sich die Ministerinnen und Minister treffen, passiert das unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Welches Mitgliedsland welche Position bezieht, ist völlig unbekannt. Ein Minister kann im heimatlichen Parlament eine Position vertreten und dann in Brüssel, hinter verschlossenen Türen, ganz anders abstimmen. Hinterher kann er die Entscheidung auf die Kommission oder die Ministerkollegen schieben. Noch schlimmer ist es, wenn sich die Staats- und Regierungschefs treffen, um die ganz großen Krisen zu besprechen. Dorthin darf nicht einmal das Parlament einen Vertreter schicken. Sie treffen Entscheidungen vorbei an den gesetzgebenden Institutionen, vorbei am Parlament, und hinterher will es keiner gewesen sein.

So kommen wir nicht weiter. Wir brauchen dringend mehr Transparenz im Rat. Die Sitzungen der Minister müssen genauso öffentlich werden wie die Ausschusssitzungen des Parlaments. Schließlich haben beide Gremien dieselbe Aufgabe – europäische Gesetzgebung zu beraten und zu beschließen. Die Ministerinnen und Minister müssen sich in die Karten schauen lassen. Ihre nationalen Parlamente wie auch die Wählerinnen und Wähler müssen sehen können, wie die Ministerin abgestimmt und für welche Änderungen sie geworben hat. Nur so schaffen wir Rechenschaftspflicht und echte demokratische Kontrolle durch Parlamente und Wähler. Und die Regierungen könnten nicht mehr alles Missliebige auf Brüssel schieben, aber jeden Erfolg für sich reklamieren. Sie könnten auch nicht mehr in Brüssel Dinge vorschlagen, die sie nie durch das eigene Parlament bekommen würden.

Europa ist aber viel mehr als die Institutionen. Europa, das sind wir alle. Viele von uns haben Errungenschaften wie Reisefreiheit, Begegnung, Umweltschutz und vieles mehr als selbstverständlich betrachtet. Durch den Brexit haben wir gemerkt: Das ist es nicht. Europa ist nicht unumkehrbar. Europa steht auf wackligen Füßen. Wir müssen etwas dafür tun, dass es bleibt. Und auch dafür, dass es besser wird.

Denn vieles läuft schief in Europa, institutionell, aber auch inhaltlich. Weder die blinde Sparpolitik noch die Abschottung gegenüber Flüchtlingen hat Europa viele Freunde gebracht – zu Recht! Aber wenn wir genau hinschauen, dann wird klar: Das Problem waren gar nicht die europäischen Institutionen. Die Mehrheit des Europaparlaments zum Beispiel tritt schon lange für sichere Zugangswege für Flüchtlinge ein. Das Problem waren und sind oft die Mitgliedsstaaten. Sie verweigern sich der Aufnahme von Flüchtlingen, sie sind gegen Gesetze für Steuergerechtigkeit, sie mauern beim Klimaschutz und sie wollen Griechenland keine Luft zum Atmen lassen.

Damit es besser läuft in Europa, müssen also alle ran: Die Institutionen in Brüssel, die Mitgliedsstaaten, alle Parlamente und überhaupt alle, die glauben, dass wir zusammen mehr erreichen können. Wir Menschen in Europa haben mehr gemeinsam als das, was uns trennt. Gemeinsam haben wir viel erreicht: Frieden geschaffen, Ländern beim Übergang in die Demokratie geholfen, Menschen zusammengebracht und Grenzen überwunden. Wer wie ich von einer Grenze kommt, weiß, was das heißt. Europa steht für Offenheit, für Zusammenarbeit, für Solidarität. Und dafür lohnt es sich, zu streiten.

Gastbeitrag von Ska Keller, Erstveröffentlichung in der Frankfurter Rundschau am 14.07.2016